Tuesday, September 8, 2015

Ist die Welt chaotisch?

Ist die Welt chaotisch? Chaotisch im griechischen Sinne: ungeordnet, grausam, zufällig, leer. Drei mögliche Antworten:
Walter Crane's Four Seasons Painting

1. Die heidnische Weltsicht

In allen heidnischen Religionen ist die (sichtbare) Welt der ultimative Horizont. Die Welt ist alles, was da ist. Das Ziel der heidnischen Religionen ist die Herstellung, beziehungsweise Erhaltung einer kosmischen Harmonie. Diese muss mühsam errungen werden, denn die Welt ist immer von Chaos bedroht. Man kann sich das tatsächlich so vorstellen, dass im Heidentum unsere Welt eine Insel der (mehr-oder-weniger) Harmonie in einem unermesslichen Ozean des Chaos ist.

2. Gnosis
Über ihre Wirkungszeit als aktive Sekte wirkt die Gnosis auch heute noch nach. Sie geht davon aus, dass die Welt, alles Materielle, von einer bösartigen, niederen Gottheit geschaffen wurde. Unsere Seele dagegen kommt von der höchsten Gottheit, ist in dieser Welt gefangen und wird nach dem Tod zu ihr zurückkehren.

3. Christentum
So verschieden Heidentum und Gnosis auch sind, sie haben eines gemeinsam: Sie gehen davon aus, dass es eine benennbare Struktur der Welt gibt. Im Christentum wurde die Welt von Gott geschaffen, aber sie ist sozusagen "leer". Weder wird sie von Quasi-Gottheiten bevölkert noch gibt es einen Bauplan, der irgendwie hinter der Welt liegt. Das bedeutet, dass die Welt "ontologisch offen". Der Mensch kann diese Öffnung ausnutzen, ist aber somit auch für die Welt, das Leben und das Materielle, verantwortlich. Ein Christ steht zur Welt weder pessimistisch noch optimistisch, sondern partiotisch: So wie ein Partiot zu seinem Land, um dessen Schwäche er weiß, an dessen Entfaltung er aber tätig mitwirkt.

Eine Welt, die weder intrinsisch heilig ist noch einen verborgenen Bauplan hat - ist das nicht eine sehr atheistische Sicht? 

Ja, klar. Aber Atheismus ist nicht notwendigerweise etwas schlechtes. Die ersten Christen wurden von den Griechen "die Gottlosen" genannt. Harter Atheismus hat sehr viel mehr mit hartem Christentum zu tun als beide etwa mit der Esoterik.
Beide treffen eine Welt an, die noch nicht einmal schlecht, sondern nur leer, unbestimmt ist. Der krasse Unterschied zwischen beiden ist, dass im Christentum der Mensch im Mittelpunkt steht und im Atheismus, irgendwie, am Rande.
Außerdem bleibt der Atheismus bei der Unbestimmtheit und Leere der Welt, wohingegen das Christentum davon ausgeht, dass die Welt einen Sinn hat (worin auch immer dieser bestehen mag).

No comments:

Post a Comment