Thursday, April 14, 2011

Zweiter Stock. Müsste reichen, wenn man Anlauf nimmt

Da ich heute früh kein Paar gleicher Socken fand, wie jeden Morgen, wieder nur Einzelsocken, nichts als Einzelsocken in den verrücktesten Farben, viele davon offensichtlich nicht von mir (da zum Beispiel absurd lang oder kurz), beschloss ich, abends heimkommend, diesem Quatsch, diesem sturen Verschwinden meiner Socken, ein Ende zu machen.
Es kann schließlich nicht sein, dass ich Socken als Paar kaufe und sie dann zu zwei verschiedenen, nicht nur nicht ähnlichen, sondern komplett verschiedenen, so verschieden wie Himmel und Husten, wie Treppe und Tiger, Einzelsocken werden.
Kann es nicht.
Ich schob die Waschmaschine beiseite. Darunter Kleinkram, Rasierklingen und Zeugs, außerdem ein Loch in der Wand: Ein mal ein Meter, dahinter ein Tunnel.
Reinkriechend verspürte ich große Wut auf die Welt im Allgemeinen.
Der Tunnel nahm mehrere Biegungen, ging an den Wänden meiner Nachbarn vorbei, ich hörte, dass Kowalskis schon wieder stritten, das machen sie dauernd, manchmal recht laut, manchmal muss man den Fernseher fast auf lautlos stellen, damit man sie noch hört.
Am Ende des Tunnels war ein Raum, eher ein Labor, ich stieß auf eine Art Zivilisation hochentwickelter Ratten, die aus meinen Socken anscheinend eine Zeitmaschine bauten.
Als sie meiner gewahr wurden, hörten die Ratten auf, an der Maschine herumzuschrauben, legten Werkzeug und Meßgeräte beiseite und begrüßten mich als „Spender der Rohstoffe“.
„Gegrüßt Seist Du, oh Spender Der Rohstoffe“, intonierte eine Ratte, die einen Kranz aus Tennissocken auf dem Rattenkopf trug, feierlich. 

Dass das nicht Rohstoffe wären, sondern Socken, meine Socken dazu und dass ich sie gerne wieder hätte.
„Das ist unmöglich“, sagte die Oberratte und führte eine Reihe an technischen Gründen an, die ich leider als im Großen und Ganzen schlüssig erachten musste.
Sie boten mir an dafür an, an der Jungfernfahrt mit der Zeitmaschine teilzunehmen. Ich müsste mich nur ein bisschen zusammenfalten; das Innere der Maschine sei sehr klein, erstens, weil ich nicht genügend Rohstoffe geliefert hätte und zweitens weil sie hauptsächlich für Ratten gebaut sei, allerhöchstens hätte man noch Waschbären mitgenommen.
Ich nahm das Angebot an, besser als nichts.
Insgesamt war es ein eher anstrengender Abend.

Wednesday, April 6, 2011

Märzabend

Sträuche und Bäume wie vergessene Statuen von Kelten oder Römern. Knirschend kieselnder Schritt auf dem Wanderweg, lautlos auf Moos. Sand, letztes Eis, darunter gefangene Vögel, auch Stechgrün und Holunder. Der Mond, zwei Handbreit über dem Horizont. Jetzt bloß niemandem begegnen oder gar reden müssen. Steine sind ok.

Furchtbar erwachsen

Ich ahne es bereits, als sie pünktlich zum Tee kommen. Umständliches Eintreten in den Windfang, Einfalten - Einklappen, Ducken bei der Tür. Mein Hund bellt den Schwänzen hinterher. Eigentlich alles wie immer. Doch Drachen kommen nie pünktlich.
Ich stelle die heiße Kanne auf den Tisch und sage zu mir selbst: „Schau an. Schau an: Sie sind pünktlich zum Tee.”
Heute gibt es grünen Tee, dazu kohleschwarze Kekse. Die Unterhaltung läuft schleppend. Mein Hund merkt das und legt seinen Kopf tröstend auf meinen Schoss.
„Gutes Flugwetter heute, nicht wahr?”, frage ich und schaue aus dem Fenster. Auf der Fensterbank steht eine Topfpflanze aus der Kreidezeit, ein angsteinflösendes Ding, das von der Sonne wegzuwachsen scheint.
Haben sie mir mal mitgebracht. Heute haben sie nichts dabei.
Meine Gäste husten und blicken nervös unter sich.
An der Tür drückt mir der Älteste die Hand länger als gewöhnlich.
„Bis zum nächsten Mal!”, sage ich.
„Ja”, sagt er. Er wirkt sehr verlegen. Als sie abfliegen, begreife ich endlich.
„Ihr kommt doch wieder?”, rufe ich; sie fliegen davon. Sechs Umrisse am Himmel, wie Fledermäuse in Saurierhaut. Zum ersten Mal ist es mir egal, was die Nachbarn denken.

Anders Werden

Ungarn, Auslandsjahr 2008. Nach einer durchzechten Nacht in Budapest fahren Sandor und ich in den Morgenstunden mit dem Zug zurück nach Debrecen. Schwiegend, dämmernd, alkohol-zerlegte Teile unser Selbste zusammen setzend schauen wir aus dem Fenster. Auf der Höhe von Hortobagy holt Sandor sein Klappmesser aus seiner Jacke und sagt:
"Ich werde mich ändern, ich will ein anderer Mensch werden."
Sind wir allein in dem Abteil? Ich schaue über die Sitze und vergewissere mich dessen. Dass Sandor mit seinem Messer herumfuchtelte, hat uns schon paar Mal in Schwierigkeiten gebracht.
Wird es dieses mal aber nicht tun, außer uns ist keiner hier.
"Warum?", frage ich. Mir fällt sofort eine Vielzahl von Gründen ein, warum ich selbst jemand anders werden wollte: Prüfungsfäuste im Nacken, kleiner Stress, großer Stress, verfehlende Ziele und das Unbehagen über die Eckigkeit der Welt am Morgen.
"Ich lebe am Leben vorbei", sagt Sandor, "ich führe nicht das Leben, das ich führen will", er spielt mit dem Messer herum, klappte es zu, klappte es auf, "ich habe jetzt dieses Buch über Handlinien gelesen, das hier ist das Problem", damit zeigt er mit der Spitze des Messers auf die dicke, dem Daumen am nächsten liegende Linie auf seiner Hand.
"Das hier ist die Lebenslinie. Bei mir ist sie unterbrochen und spaltet sich. Das ist der Grund, warum ich nicht lebensbezogen genug bin. Das ändere ich jetzt."
Er sticht sich in die Hand, zieht die Linie nach, macht sie durchgezogen und gerade.
"Ich verstehe", sage ich und überlege, ob Sandor das Messer jemals geputzt hat (er benutzt es sonst, um Äpfel zu schälen).
"Das hier ist die Kopflinie, guck mal, sie biegt sich von meiner Handlinie weg. Menschen, bei denen das so ist, verlieren sich oft in Hirngespinsten und Tagträumen. Problem gehabt, Problem gelöst." Ein weiterer blutiger Schnitt und seine Kopflinie schmiegt sich nun an die Lebenslinie an.
"Ich weiß nicht, ob das wirklich so einfach ist, sich zu ändern", ich kann den Blick nicht von seiner Selbstverstümmelung abwenden.
"Doch, ist es. Man muss es nur wollen. Letztes Problem: Herzlinie", Sandor zeigt er auf die Falte in seiner Handfläche, die zwischen den beiden vorigen liegt, "sie ist bei mir schnurgerade. Das steht für ein reines Herz und Spontanität. Das ist mir schon oft in die Quere gekommen. Ich will überlegter, distanzierter und moralisch flexibler sein."
Ein letzter Schnitt und Sandors Herzenslinie kringelt sich nun, nimmt Abkürzungen und Umwege auf seiner Hand.
"So", sagt er und hält die Hand hoch, "ich bin jetzt ein anderer Mensch."
Sandor presst die Hand an das Fenster, sie hinterlässt ein blutiges Muster, in etwa den Buchstaben W.
Dahinter gehen Regenfaden auf langen dünnen Beinen an der ungarischen Steppe vorbei, von der sich die Nacht langsam hebt.

Später am diesen Tag telefoniere ich mit meinem Bruder, der in Breslau Medizin studiert und erzähle ihm von meinem seltsamen Erlebnis im Zug. Er lacht: "Schöne Idee, das ist aber Quatsch. Die Haut in der Handfläche ist sehr dick, fast dicker als die Haut auf dem Handrücken. Ein Schnitt, der die Handlinien umschreiben würde, müsste so dick sein, dass er die darunter liegenden Sehnen und Muskeln durchtrennen würde. Du wärst dann vielleicht wirklich ein anderer Mensch, aber Du könntest Deine Hand nicht mehr bewegen."