Sunday, October 23, 2011

Gitter, lungennah

Das Allerbeste: Als ich mich an einem der ersten Tagen nach dem Ereignisgeflecht Schlafen legte, wachte ich nicht in meinem Bett, sondern an einem steril-weißem Ort auf, festgeschnallt auf eine metallische Bahre. Um mich herum standen Engelmenschen, ANGELOS, in weißen Kitteln; ihre Gesichter waren wie verhüllt, ich konnte ihren Blick nicht ausmachen.

Sie werden Ihre Haut nicht mehr tragen, Grim Rink. Wir werden sie Ihnen abnehmen. 
Die Bahre kippte nach vorne, so weit, dass ich stand und drehte sich anschließend bis ich kopfüber hing. Die Lederbänder an meinen Handgelenken und Knöcheln hielten mich. Schön, gehalten zu werden.
Bitte nicht. Bitte nicht. Bitte, bitte, bitte nicht.

Ihre jetzige Körperlage ist Ihnen sicherlich unangenehm, leider aber unumgänglich. Auf diese Weise fließt nämlich mehr Blut in Ihr Gehirn. So bleiben Sie länger bei Bewusstsein. 
Das Häuten wurde nicht am Stück vollzogen, das ist vermutlich auf technisch gar nicht möglich. Die Engelmenschen zogen mit Filzstiften Längslinien auf meinem Körper und rissen mir die Haut dann in langen Streifen ab. Jeder Streifen war wie ein Murmeln, wie eine kleine Geschichte, die geflüstert erzählt wurde, um dann weggeworfen zu werden.

Das war das Schmerzlichste, was ich je erlebt habe; ein Schmerz, von dem ich vorher nicht gedacht habe, dass ich ihn überleben würde.

Ich wurde losgeschnallt.
Stehen Sie auf und laufen Sie ein wenig. Wie fühlen Sie sich? 
Ich erhebe mich und stütze mich beim Gehen an der Bahre ab. 
Alles tut weh. Laufen schmerzt. Alles fühlt sich hart an, eckig an, kantig an.
Ihre alte Haut ist weg, gewöhnen Sie sich daran. Sie konnten sie, nachdem was passiert ist, nicht mehr tragen. Es wird Ihnen eine neue wachsen. 








Die Hilfe

Es gibt einen Arzt, zu dem ich jetzt regelmäßig gehe. Alles, was er tut, ist, mir in jeder Sitzung einen Spiegel zu zeigen.

Beim ersten Mal sah ich in dem Spiegel mich selbst, vor dem Hintergrund der WELT, so wie sie jetzt ist, nachdem die schwarze Sonne aufbrach. Jede Woche zeigte der Spiegel eine Sache weniger: Zunächst ohne den furchtbaren Himmel. Dann ohne die ausgebrannten Wälder. Dann ohne den unfruchtbaren Boden. Als ich letztes Mal bei dem Arzt war, zeigte der Spiegel nur noch mich, sonst nichts.

Ich glaube das hilft, aber ich weiß nicht inwiefern.  

Organe ohne Körper

Ein Wort zuvor: Dass ich weiß, dass es eigentlich nicht so ist, dass es an meiner Perspektive liegt: Augenlos. Enthüllung, also, auf Griechisch: Apokalypse. Was wird hier enthüllt? Das, was ich als Schrecken wahrnehme, zeigt etwas auf – aber was? Entsteht die Angst daraus, dass ich das Ereignisgeflecht nicht in mein Selbstsystem 
einordnen kann? 

Schon Tage vorher tauchte am Himmel eine zweite Sonne auf. Sie war schwarz. Ich sah sie und ignorierte es, machte mir keine Gedanken. Sie schwoll an und brach auf; es war, als würde der Himmel zerbrechen. Genauer: Als sei das, was den Himmel zum Himmel macht, weggefallen, davongekippt. Was anschließend am Himmel zu sehen war: Die Vor-Wirklichkeit. Das, woraus Wirklichkeit hergestellt wird, die Welt der Menschen in dem Zustand ohne Menschen; etwas, was nicht dafür bestimmt war, dass der menschliche Blick darauf fällt. 

Das geschah gleichzeitig auf einmal und nach und nach. Teile der heilen Welt fielen wie Fleischstücke von einem Körper. Danach schien fahles, graues Licht aus einer unbestimmten Quelle. Jetzt keine Sonne und kein Ton, kein Ton und keine Sonne jetzt. 


Nichts. Sein im Nichts, Zerfall. Und kein Königreich mehr und ich auch nicht mehr König, nicht einmal mehr König Eidechse, sondern ORGANE OHNE KÖRPER, zusammengehalten von einem Namen. 

Wie ein vertrautes Geräusch von weither: Die Erinnerung daran, dass ich das schon einmal durchgemacht habe. Daher bin ich im Besitz einer Karte, eines Plans.

Als ich aus dem glaslosen Fenster der Ruine schaue, die mal ein Schloss, mein Schloss war, blicke ich in zwei rote Augen. Aber im Gegensatz zu damals, zum ersten Mal, erstarre ich nicht, breche ich nicht zusammen, sondern weiß: Das ist Einsamkeitspanik. Komm rein, Einsamkeitspanik. Ich habe Dich erwartet. Lass uns anfangen.  

Ich will mich zurückziehen, aber es gibt keinen Ort, der nicht angegriffen, zerstört ist. Streife ziellos umher, verwirrt, überfordert, zunehmend angefressen.

Ich denke mehr, als ich weiß, 
ich hoffe mehr, als ich spüre, 
dass tief unter der Erdoberfläche etwas überlebt hat. Widerstandfähige, ledrige, hässliche Wesen, die ich nicht bemerkt habe, bevor die schwarze Sonne am Himmel erschien. Die in der Lage wären, einen Wiederaufbau durchzuführen. 


Siehe, etwas hat tatsächlich überlebt. Ich höre ein dumpfes Hämmern in der Tiefe, ein Rollen, ein rhythmisches Schlagen. Ich suche und finde einen Eingang in das Erdreich, zwischen ausgebrannten Baumstümpfen, bei einem Bach. Ich steige eine Treppe aus gestampften Torf herab. Am Ende erhebt sich ein unterirdisches Gewölbe, in dem tatsächlich gearbeitet wird. Ich werde nicht durchgelassen. Wesen des Untergrunds bemerkten meine Anwesenheit und schicken mich höflich, aber sehr bestimmt zurück. Ich kann hier nichts tun. Das muss von alleine geschehen.