Sunday, December 4, 2011

Die Tücke des Subjekts III - Heidegger, my love

Zizek, Slavoj: Die Tücke des Subjekts. 
Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. Frankfurt a. M. 2001.
1. Auflage.

S. 16 Gemeinhin wird die Heideggers Dekonstruktion der Metaphysik (insbesondere die der Subjektivität) als wichtiger philosophischer Fortschritt anerkannt. Zizek weist unter Bezugnahme auf Habermas darauf hin, dass dies die Widerstandsmöglichkeiten des Subjekts untergräbt und letztlich in den totalitären Schrecken des 20. Jahrhunderts mündet.

S. 17 Heidegger beruft sich in seiner Dekonstruktion auf Nietzsche. Dieser habe bereits den sich als Zentrum des Universums setzenden Menschen als Wahn und Unsinn kritisiert, sei dabei (so Heidegger so Zizek) immer noch "im Horizont der cartesianischen Subjektivität verblieben".

S. 23 Heidegger selbst würde sagen, dass er nicht über Politik spricht, sondern über Metaphysik, ein denkbar unpolitisches Thema. Doch laut Zizek funktioniere Ideologie immer darüber, dass sie auf einen nicht-ideologischen Kern verweise. Dieser (im Falle Heideggers: die Metaphysik des Subjekts) sei geradezu der Motor* der Ideologie. 

S. 25  Heidegger zufolge ist die existierende Welt keine Wohnstatt des Menschen, kein Zuhause und keine Heimat. Die Subjektivität des Menschen, der spezifische Zustand seines Seins in der Welt ist der des "Aus-den-Fugen-seins", des "Abgrunds" und "Herausstands". Daher schließen sich Exzess und Alltagswelt nicht aus, im Gegenteil: Die Alltagswelt ist die exzessive Entscheidung dafür, als Mensch, ex-zentrisch, zu leben.
S. 27 Das Problem bei Heidegger sei nur, so Zizek, dass dieser ignoriere, dass man die jeweils eigene Art der Exzentrizität nicht frei wählen kann, sondern immer in bestimmten, festgelegten sozialen System verankert ist (das, was Lacan "das Symbolische" nennt).  

*
mein Ausdruck - A.G.R. 

Die Tücke des Subjekts II - Genuss und Autorität

Zizek, Slavoj: Die Tücke des Subjekts. 
Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. Frankfurt a. M. 2001.
1. Auflage.

S. 10 Das Gesetz des Vaters sei der Garant des Genusses. Ohne die autoritäre Stimme in der Welt könne es keine Lust geben; dies behauptet Zizek mit Verweis auf Lacan. Der Preis für das gegenwärtige prinzipielle in Frage stellen jeder Autorität sei daher nicht der Verfall der Sitten, sondern die Abnahme der Genussfähigkeit. Daher auch Zizeks Sympathie für den Katholizismus. 

Die Tücke des Subjekts I - Cogito

Zizek, Slavoj: Die Tücke des Subjekts.
Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. Frankfurt a. M. 2001.
1. Auflage.


S. 8 Es ginge nicht darum, zu einem vor-kritischen Begriff von Subjekt zurückzukehren: Einem sich selbst transparenten, klar abgegrenzten, innerem Ich oder Ich-Kern. Das Ziel des Buches ist vielmehr, die verborgene, vergessene, verdrängte exzessive Seite des cartesianischen Subjekts herauszuarbeiten. S. 10  Auf Heidegger und auf Kant zurückgreifend, macht Zizek in der Einbildungskraft ebendieses exzessive Moment des Cogito aus. 

Thursday, December 1, 2011

Sunday, October 23, 2011

Gitter, lungennah

Das Allerbeste: Als ich mich an einem der ersten Tagen nach dem Ereignisgeflecht Schlafen legte, wachte ich nicht in meinem Bett, sondern an einem steril-weißem Ort auf, festgeschnallt auf eine metallische Bahre. Um mich herum standen Engelmenschen, ANGELOS, in weißen Kitteln; ihre Gesichter waren wie verhüllt, ich konnte ihren Blick nicht ausmachen.

Sie werden Ihre Haut nicht mehr tragen, Grim Rink. Wir werden sie Ihnen abnehmen. 
Die Bahre kippte nach vorne, so weit, dass ich stand und drehte sich anschließend bis ich kopfüber hing. Die Lederbänder an meinen Handgelenken und Knöcheln hielten mich. Schön, gehalten zu werden.
Bitte nicht. Bitte nicht. Bitte, bitte, bitte nicht.

Ihre jetzige Körperlage ist Ihnen sicherlich unangenehm, leider aber unumgänglich. Auf diese Weise fließt nämlich mehr Blut in Ihr Gehirn. So bleiben Sie länger bei Bewusstsein. 
Das Häuten wurde nicht am Stück vollzogen, das ist vermutlich auf technisch gar nicht möglich. Die Engelmenschen zogen mit Filzstiften Längslinien auf meinem Körper und rissen mir die Haut dann in langen Streifen ab. Jeder Streifen war wie ein Murmeln, wie eine kleine Geschichte, die geflüstert erzählt wurde, um dann weggeworfen zu werden.

Das war das Schmerzlichste, was ich je erlebt habe; ein Schmerz, von dem ich vorher nicht gedacht habe, dass ich ihn überleben würde.

Ich wurde losgeschnallt.
Stehen Sie auf und laufen Sie ein wenig. Wie fühlen Sie sich? 
Ich erhebe mich und stütze mich beim Gehen an der Bahre ab. 
Alles tut weh. Laufen schmerzt. Alles fühlt sich hart an, eckig an, kantig an.
Ihre alte Haut ist weg, gewöhnen Sie sich daran. Sie konnten sie, nachdem was passiert ist, nicht mehr tragen. Es wird Ihnen eine neue wachsen. 








Die Hilfe

Es gibt einen Arzt, zu dem ich jetzt regelmäßig gehe. Alles, was er tut, ist, mir in jeder Sitzung einen Spiegel zu zeigen.

Beim ersten Mal sah ich in dem Spiegel mich selbst, vor dem Hintergrund der WELT, so wie sie jetzt ist, nachdem die schwarze Sonne aufbrach. Jede Woche zeigte der Spiegel eine Sache weniger: Zunächst ohne den furchtbaren Himmel. Dann ohne die ausgebrannten Wälder. Dann ohne den unfruchtbaren Boden. Als ich letztes Mal bei dem Arzt war, zeigte der Spiegel nur noch mich, sonst nichts.

Ich glaube das hilft, aber ich weiß nicht inwiefern.  

Organe ohne Körper

Ein Wort zuvor: Dass ich weiß, dass es eigentlich nicht so ist, dass es an meiner Perspektive liegt: Augenlos. Enthüllung, also, auf Griechisch: Apokalypse. Was wird hier enthüllt? Das, was ich als Schrecken wahrnehme, zeigt etwas auf – aber was? Entsteht die Angst daraus, dass ich das Ereignisgeflecht nicht in mein Selbstsystem 
einordnen kann? 

Schon Tage vorher tauchte am Himmel eine zweite Sonne auf. Sie war schwarz. Ich sah sie und ignorierte es, machte mir keine Gedanken. Sie schwoll an und brach auf; es war, als würde der Himmel zerbrechen. Genauer: Als sei das, was den Himmel zum Himmel macht, weggefallen, davongekippt. Was anschließend am Himmel zu sehen war: Die Vor-Wirklichkeit. Das, woraus Wirklichkeit hergestellt wird, die Welt der Menschen in dem Zustand ohne Menschen; etwas, was nicht dafür bestimmt war, dass der menschliche Blick darauf fällt. 

Das geschah gleichzeitig auf einmal und nach und nach. Teile der heilen Welt fielen wie Fleischstücke von einem Körper. Danach schien fahles, graues Licht aus einer unbestimmten Quelle. Jetzt keine Sonne und kein Ton, kein Ton und keine Sonne jetzt. 


Nichts. Sein im Nichts, Zerfall. Und kein Königreich mehr und ich auch nicht mehr König, nicht einmal mehr König Eidechse, sondern ORGANE OHNE KÖRPER, zusammengehalten von einem Namen. 

Wie ein vertrautes Geräusch von weither: Die Erinnerung daran, dass ich das schon einmal durchgemacht habe. Daher bin ich im Besitz einer Karte, eines Plans.

Als ich aus dem glaslosen Fenster der Ruine schaue, die mal ein Schloss, mein Schloss war, blicke ich in zwei rote Augen. Aber im Gegensatz zu damals, zum ersten Mal, erstarre ich nicht, breche ich nicht zusammen, sondern weiß: Das ist Einsamkeitspanik. Komm rein, Einsamkeitspanik. Ich habe Dich erwartet. Lass uns anfangen.  

Ich will mich zurückziehen, aber es gibt keinen Ort, der nicht angegriffen, zerstört ist. Streife ziellos umher, verwirrt, überfordert, zunehmend angefressen.

Ich denke mehr, als ich weiß, 
ich hoffe mehr, als ich spüre, 
dass tief unter der Erdoberfläche etwas überlebt hat. Widerstandfähige, ledrige, hässliche Wesen, die ich nicht bemerkt habe, bevor die schwarze Sonne am Himmel erschien. Die in der Lage wären, einen Wiederaufbau durchzuführen. 


Siehe, etwas hat tatsächlich überlebt. Ich höre ein dumpfes Hämmern in der Tiefe, ein Rollen, ein rhythmisches Schlagen. Ich suche und finde einen Eingang in das Erdreich, zwischen ausgebrannten Baumstümpfen, bei einem Bach. Ich steige eine Treppe aus gestampften Torf herab. Am Ende erhebt sich ein unterirdisches Gewölbe, in dem tatsächlich gearbeitet wird. Ich werde nicht durchgelassen. Wesen des Untergrunds bemerkten meine Anwesenheit und schicken mich höflich, aber sehr bestimmt zurück. Ich kann hier nichts tun. Das muss von alleine geschehen. 

Tuesday, May 31, 2011

Läuft

Konrad Wiese schaut unter buschigen Augenbrauen hinweg auf sein gelb-schwarzes Dienstfahrrad. Mittlerweile hat er schon so viele Teile daran ausgetauscht, dass es nichts mehr mit dem Fahrrad gemein hat, das er vor zwanzig Jahren zur ersten Dienstfahrt bestieg. Gestern bekam er einen Kündigungsbescheid. Wegen Alkoholismus. Naja.

Konrad steht vor „Andys Dorfschenke“, auf dem Parkplatz. Die Tafel mit dem „Tipp des Tages“ ist noch nicht aufgestellt, Andy macht erst um eins auf. Konrad denkt nach. Dann greift er tief in seinen Postsack und holt so viele Briefe heraus, wie er mit einer Hand halten kann. Er wirft sie in den Rinnstein. Einen nach dem anderen.


Die Zeitung sagt, es sei Dienstag. Ich zweifle daran, denn dienstags kommt immer ein Brief von Wolfgang. Wolfgang ist da sehr penibel, verlässlich wie eine Uhr, wenn kein Brief kommt, ist nicht Dienstag. Ich blicke zu dem Stapel alter Briefe auf dem Bücherregal: Gut, dass es die Post gibt. Gedruckt, beschrieben; Papier bietet Widerstand: Reißt und schneidet in die Fingerkuppen, es erinnert mich an Wolfgang - ein widerspenstiges Relikt aus einer anderen Zeit. 

Mickey fühlt sich ein wenig unwohl. Der Mann auf dem Stuhl wackelt hin und her. Er könnte umkippen. Was er nicht kann, ist schreien, denn Wagner hat seinen Mund mit Klebeband zugeklebt. Er kann sie auch nicht sehen, denn der Mann hat einen Kissenbezug auf dem Kopf. Sie stehen im Halbkreis um ihn herum. Die Ratlosigkeit in ihren Stimmen hallt traurig von den kahlen Kellerwänden wieder. Mickey würde gerne nach oben in seine Wohnung gehen und das Ganze einfach vergessen. 

„Wo ist der Brief?“, fragt Wagner.
Der Mann schweigt – logisch.
„Der Brief – unser Brief – ist nicht in deinem blöden Sack. Wo ist er?“
Der Mann schweigt weiter. Wagner will auch erstmal keine Antwort, was er will, ist, dass sich der Typ Gedanken macht. Der Kellerraum ist absolut leer, bis auf sie, den jungen Typen und seinen Sack, der leer auf dem Boden liegt.
„Lass mich mal“, Dimitri schiebt Wagner zur Seite und holt eine CZ 75 aus der Tasche.
„Whou, whou, whou“, Mickey wird mulmig, „immer mit der Ruhe, wir wollen niemanden umbringen!“
„Halt die Klappe, du Idiot“, flüstert Dimitri, „ich werde ihm nur ein bisschen Angst einjagen, ganz easy, die Waffe ist noch nicht mal entsichert.“
Er wendet sich an den Mann in der Postuniform und spricht laut, da dieser ihn ja nicht sehen kann.
„Also, mein Freund, wir können hier noch den ganzen Tag … “
Weiter kommt er nicht, weil sich ein Schuss löst und den Oberschenkel des jungen Postboten trifft.

Ich sitze am Frühstückstisch als das Handy klingelt. Auf dem Display erscheint „Wagner“. Wenn Wagner klingelt, sollte man eigentlich gar nicht erst dran gehen, dass gibt immer nur Ärger. Ich lasse es klingeln. Wagner erkennt man schon am Klingeln selbst: fordernd und dringlich. Ich stelle den Ton aus, woraufhin es in meinen Gedanken weiterklingelt.

Es hört auf. Ich frühstücke weiter. Die Türklingel schellt. Ich überlege sorgfältig, was zu tun ist, entscheide mich dann doch für das Falsche und öffne die Tür. Im Windfang steht Wagner.

„Haaaallllloo Peeeteer!“, Wagner strahlt, wie immer, ich habe Wagner noch nie niedergeschlagen gesehen.
„Hallo“, sage ich und achte darauf, kein Ausrufezeichen in meine Stimme zu legen.
„Dir ist vielleicht aufgefallen, dass heute keine Post gekommen ist. Oder?“, fragt er.
„Ja.“ In Wagners Gegenwart gebe ich mich immer abgeklärt und betont erwachsen; ich habe keine Ahnung wieso.
„Blöd, oder?“
„Ja, sehr.“ Ich hoffe, der Brief vom Wolfgang kommt noch.
„Mmmh – hm. Sehr blöd.“ Danach kurzes Schweigen, bevor er wieder ansetzt:
„Die Sache ist nämlich die, wir haben den Postboten.“
„Was soll das heißen: ihr habt ihn?“
„Willst du mich vielleicht hereinbitten? Ein Kaffee wäre jetzt toll!“
„Nein.“
„Gut, dann nicht“, sagt Wagner, ein wenig verärgert, aber nicht sehr, „jedenfalls solltest du kommen und uns ein bisschen unterstützen.“

Im Auto schaue ich die ganze Zeit zum Himmel, da hat sich etwas verändert. Ich komme nicht darauf, was es sein könnte, aber es fühlt sich sehr gut an. Wagner bemerkt mein angestrengtes Nachdenken.
„Das ist die Sonne. Sie scheint.“
Ich erinnere mich dunkel, davon gelesen zu haben.
„Das wurde jetzt im ganzen Bundesgebiet eingeführt, um die Geburtenrate zu erhöhen: Es regnet nicht mehr.“
Ich glaube, ich kann mich daran gewöhnen.
„Die Sache ist die“, sagt Wagner und dreht das Radio leiser, „ich und die Jungs wollen ja jetzt Karriere machen. Du weißt schon: Schick sein, fette Autos, Geld wie Heu und koksen. Raus aus dem verlorenen Leben in der Kleinstadt. Wir haben uns neulich getroffen und nachgedacht, wie man reich werden könnte. Jango hatte dann auch gleich eine Superidee: Wir haben viel Geld von der Bank geliehen und als versicherte Sendung verschickt – an deine Adresse, aber keine Angst, du hättest davon nichts mitbekommen. In Schritt 2 unseres Plans wollten wir dann den Postboten überfallen und ihm das Geld abnehmen. Wir hätten dann das Geld und die Post würde uns trotzdem eine Entschädigung geben. Mit der hätten wir dann den Kredit zurückgezahlt.“
„Ein guter Plan.“
„Ja, nicht wahr?“ Wagner fährt wie ein Irrer, „leider ist etwas schief gelaufen. Genauer gesagt: zwei Dinge sind schief gelaufen.“
„Er hatte den Brief nicht dabei.“
„Richtig.“
„Was noch?“
„Wir haben ihn ein bisschen … wie soll ich sagen? ... beschädigt.“
Unwillkürlich male ich mir aus, was bei Wagner „beschädigt“ bedeuten könnte.
„Und wieso kommst du jetzt zu mir?“
Wagner, der kleine drahtige Wagner, Wagnerino, Wagnercello, der nicht nur größere, der mehr Muskeln hat als andere Menschen, schluckt unwillkürlich.
„Naja. Weil wir dachten, dass dir schon was einfällt.“

Wir biegen um eine Häuserecke, dahinter ist schon Mickeys Wohnung. Doch wir können nicht weiterfahren, denn um den Block herum steht eine Polizeisperre. Wagner erbleicht. Ein Staatsbeamter in grüner Uniform tritt an das Auto, Wagner kurbelt das Fenster herunter.
„Sofort umkehren! Hier geht’s nicht weiter!“
„Was ist los, Herr Wachtmeister? Ich muss das wissen, ein Freund von mir wohnt da!“
„Ein Typ mit einer Waffe hat sich im Keller eingeschlossen. Genaueres kann ich Ihnen nicht sagen.“
Genaueres will ich auch gar nicht wissen. Ich blicke noch mal auf den verloren dreinschauenden Wagner und steige aus.

Ich überlege, wo ich jetzt hingehen könnte. Mir fällt Andys Kneipe ein, die ist hier gleich um die Ecke.
Als ich loslaufe, regnet es wieder. Im Rinnstein neben mir schwimmt ein Brief.
Dann noch einer.
Dann eine Postkarte.

Monday, May 9, 2011

Bitte sprich mich nicht darauf an

Ich besuche S. in Rom. Zum ersten Mal, seitdem wir beide in Ungarn waren, sehen wir uns wieder. Wir sitzen auf der faschistischen Treppe eines faschistischen Verwaltungsgebäudes, das die Allierten als Post genutzt haben (vom 19. Mai 45 bis zum 3. Februar 46), rauchen, trinken Macchiato und brennen Löcher in eine Ausgabe von „Eat Pray Love“, die ich mir am Flughafen in Ciampiono gekauft habe. Es schlägt halb zwölf, der Mittag breitet seine Flügel weit aus und kreist über uns, streift uns immer wieder, bittet um Schweiß und Aufmerksamkeit. S. dreht sich um, zielt mit ihrem Becher nach einem Mülleimer, verfehlt ihn knapp und trifft eine Taube, die probehalber daran pickt.
„Woher hast Du die beiden Narben am Nacken, László?“
S. benutzt meinen ungarischen Namen.

„Vor einem halben Jahr fuhr ich dem Neujahr entgegen, eine Woche Urlaub von der Magisterarbeit, nach Rumänien, denn ich sammle verrückte Länder. Rumänien, das ist eine Sprache, die fast wie Italienisch klingt, orthodoxe Kirchen, Partykultur wie in Ungarn (enthusiastisch-selbstzerstörerisch) und Wälder. Riesige Wälder. Stundenlang an Wäldern vorbei, Urwaltqualität: Rumänien – finde ich gut. Gilt jedenfalls für die erste Woche, die ich da war. Die habe mit einer studentischen Reisegruppe verbracht; als sie nach Bella Germania zurückfuhren, blieb ich noch eine Woche, um wild und frei herumzureisen. Naja. Vielleicht kennst Du das ja, wenn man in einer fremden Stadt in den falschen Bus einsteigt. Und die Panik, die einen anspringt, wenn man es merkt und keine Ahnung hat, wo man gerade ist. Kurz nachdem ich am späten Nachmittag, das war der Dienstag der zweiten Woche, aus der Jugendherberge in Brasov trat, stieg ich in einen Bus, von dem dachte, dass er mich nach Sibiu bringen würde. Die Fahrt sollte eine Stunde dauern. Ich wurde bereits unruhig, als sich der Bus nach siebzig Minuten immer noch nicht der Zivilisation näherte, sondern nur stur tiefer und tiefer in die rumänischen Wälder fuhr. Von Haltestelle zu Haltestelle saßen immer weniger Menschen im Zug. Irgendjemand hat mir vor meiner Fahrt gesagt, dass Rumänisch sehr einfach wäre und dass die Rumänen einen schon verstünden, wenn man Italienisch mit ihnen spräche. Das hätte ich mal gegenchecken sollen. Auf jeden Fall war es ein Fehler, blöd und passiv dazusitzen, bis außer mir und dem Fahrer niemand mehr im Bus war (der Busfahrer begegnete meinen fehlenden Rumänisch-Kenntnissen erst mit Unverständnis, dann mit Empörung). 

„Last halt“, sagte er schließlich, fast zwei Stunden nachdem wir in Brasov losgefahren sind. Dann zeigte er auf mich und fügte hinzu: „you out now!“
Da stand ich, an einer Haltestelle, irgendwo, mit lauter Abenddämmerung und Schnee um mich herum (beide kommen ja immer dann, wenn man sie nicht braucht) in einem Land, dessen Sprache ich nicht kenne. Ich wünschte mir, nicht zum ersten Mal, mehr Trost, als mein Rucksack mir geben konnte und ging in die Richtung, aus die der Bus kam; ging so zwanzig Minuten daran entlang, parallel floss teilnahmslos ein Bach. Während dieser Zeit kam mir kein Auto entgegen und es fuhr auch keins an mir vorbei. Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der mein innerer Anti-László mir schon ausmalte, wie ich gleich auf ein Wolfsrudel stoßen würde, fuhr ein breiter, ungewöhnlich eckiger Wagen an mir vorbei, blieb 50 Meter hinter mir stehen, und rollte dann im Rückwärtsgang zu mir zurück. Der Fahrer kurbelte das Fenster runter, ein älterer, wohlgekleideter Herr. Er mich fragte in holprigem, aber durchaus verständlichen Deutsch, ob ich nicht mitfahren will. Naja. Eigentlich schon, aber ...
- „Ich bin nicht, wiesagtman, homosexuell. Ich bin keine Polizist, ich Dich einfach sehe und denke mich: Eines arme Mann, werde ich ihm helfen.“
Mein Bruder sagt auch solche Sachen, außerdem sah der Typ aus wie Donald Sutherland, daher fasste ich Vertrauen und stieg in den altertümlichen Wagen ein.
- „Vladimir ich bin. Du mich nennen kannst Vlad.“ 


Mit leichter Irrititation stellte ich fest, dass wir nicht (wie ich gehofft habe) nach Sibiu, oder von mir aus nach Brasov fuhren, sondern nur weiter in das grüne Nichts hinein. 'Irgendwann werde ich auf dieses Abenteuer zurückblicken und lachen', dachte ich und wunderte mich darüber, denn normalerweise denke ich nicht in solchen Kalendersätzen. Wir schwiegen den Wagenraum eine Weile umgemütlich zu, dann brach Vlad die Stille und fragte mich, was ich studiere, wie mir Rumänien gefiele, wo ich bislang übernachtet hätte, welche Blutgruppe ich habe, ob er das Radio anmachen soll, wie lange ich bleiben würde und ob ich schon in Ungarn gewesen sei, denn das wäre hier „gleich um die Ecke, um zu sagen so.“

Wir kamen bei einer einsam stehenden, aber sehr stilvollen Jahrhundertwende-Villa an: Fast ein Schloss. Die angenehme Wärme darin nahm ich zunächst gar nicht war, weil ich von der Unzahl an Gemälden gebannt war, die im Kaminzimmer hingen. Ich wanderte umher – Vlad war sichtlich geschmeichelt, dass ich so beeindruckt war – und blieb vor einem Gemälde stehen, dass einen Drachen darstellte. Dieser überreichte gerade einem Menschen eine Blume (einen blühenden Kaktus?).
„Das mein Vorfahr ist: Kelemen. Natürlich Quatsch das ist, keine Drachen es gibt, jeder das weiß, hahahaha“, er drehte sich ein paar Mal hin und her, als wüsste er nicht, was er als nächstes sagen sollte, fasste sich aber schnell, „erstmal ablegen Du jetzt. Dann wir essen.“ Ich hängte meine Jacke in den Garderobenraum, stellte den Rucksack ab, hielt nach einem Spiegel Ausschau, um zu prüfen, ob ich unzumutbar verlottert aussah oder nur verlottert, fand aber keinen.

Das Essen war köstlich und während er es auftrug, dachte ich über die romantische Tragik verarmter osteuropäischer Adliger nach.
„Vlad, das ist wirklich lecker!“
„Äh … dankeschon. Wohne ich alleine, essen zu kochen, ist das eine Notwendigkeit.“
Ich fragte, warum er selbst nichts ißt.
„Zu spat das ist, Essen nach acht Uhr unmittelbar auf meine Huften wandert. Furchtbar fett ich werde. Abstoßend. Kinder vor mir davonlaufen, hahahaha“, und dann, etwas leiser, wie zu sich selbst, „aus vielen Grunden sie das tun, ubrigens.“

Obwohl mein Gastgeber total freundlich war, das Essen nicht vergiftet und kein Schlafmittel im Wein, hatte ich das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Wie das Summen einer Mücke bei Nacht oder ein Klopfgeräusch aus dem Nebenzimmer – etwas war hier nicht in Ordnung, aber ich konnte nicht mit dem Finger darauf zeigen. Erstmal war mir das Essen auch wichtiger.

Zum Nachtisch gab es Eis mit heißen Kirschen. Ich schaute auf das Besteck, das noch vor mir lag (um meinen Teller herum hatte Vlad eine kleine Besteck-Kolonie platziert; erfolgreich erriet ich aber welches – zum Beispiel – die Salatgabel war und welches die Gabel für den Hauptgang). Ich entschied mich, das Eis mit dem kleineren der beiden kleinen Goldlöffel, die noch übrig waren, zu essen. 'Er muss echt reich sein, mit diesem ganzen Goldbesteck, den Bildern und dass er in diesem riesigen Anwesen ganz alleine wohnt', ging es durch den Kopf. 
„Damit doch nicht, liebes Freund!“, unterbrach Vlad meine Gedanken, „ist das für die Truffel ganz am Schluss. Fur das Eis nimmt den anderen Goldloffel.“
Da wurde es mir auf einmal klar. Wie bei einem Bilderrätsel, das man lange anstarrt und bei dem man die Lösung trotzdem einfach nicht rafft. Es gibt einen Punkt, an dem es klickt und man hat's. Ohne, dass man anders daraufblickt, sieht man auf einmal die Lösung und versteht nicht, wie man sie hat 
vorher übersehen können: 
Aus Gold.
Nicht aus Silber.
Kein Silber. Denn es brennt.
Schlagartig wusste ich es und schaute hoch.
Vlad beobachtete mich, sah mit direkt in die Augen: „Nicht gut Dir?“
„Ich müsste mir mal die Hände waschen. Bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick.“
Er betupfte sich die Lippen mit seiner Serviette und schaute mich nicht an: „Kein Problem das ist. Du folgen den Gang, dann die linkerhand dritte Tur.“
„Ok“, sagte ich und sah in seinem Blick, dass er wusste, dass ich es wusste.
Langsam, ohne Hast, stand ich auf und ging zur Tür des Speisesaals. Ich ging entspannt heraus, schloss die Tür leise. Und rannte los. Als ich den Gang schon fast durchquert habe, hörte ich wie die Tür hinter mir zweites Mal ins Schloss fiel."

An dieser Stelle unterbricht S. mich ungeduldig und genervt.
„László, ist das wirklich passiert?“
Ich ziehe an meiner Kippe und brenne ein weiteres Loch in das Buch, das vor uns liegt.
„Naja. Ja … und nein. Vielleicht nicht genau so in allen Details. Aber es trifft den Kern der Sache.“

Thursday, April 14, 2011

Zweiter Stock. Müsste reichen, wenn man Anlauf nimmt

Da ich heute früh kein Paar gleicher Socken fand, wie jeden Morgen, wieder nur Einzelsocken, nichts als Einzelsocken in den verrücktesten Farben, viele davon offensichtlich nicht von mir (da zum Beispiel absurd lang oder kurz), beschloss ich, abends heimkommend, diesem Quatsch, diesem sturen Verschwinden meiner Socken, ein Ende zu machen.
Es kann schließlich nicht sein, dass ich Socken als Paar kaufe und sie dann zu zwei verschiedenen, nicht nur nicht ähnlichen, sondern komplett verschiedenen, so verschieden wie Himmel und Husten, wie Treppe und Tiger, Einzelsocken werden.
Kann es nicht.
Ich schob die Waschmaschine beiseite. Darunter Kleinkram, Rasierklingen und Zeugs, außerdem ein Loch in der Wand: Ein mal ein Meter, dahinter ein Tunnel.
Reinkriechend verspürte ich große Wut auf die Welt im Allgemeinen.
Der Tunnel nahm mehrere Biegungen, ging an den Wänden meiner Nachbarn vorbei, ich hörte, dass Kowalskis schon wieder stritten, das machen sie dauernd, manchmal recht laut, manchmal muss man den Fernseher fast auf lautlos stellen, damit man sie noch hört.
Am Ende des Tunnels war ein Raum, eher ein Labor, ich stieß auf eine Art Zivilisation hochentwickelter Ratten, die aus meinen Socken anscheinend eine Zeitmaschine bauten.
Als sie meiner gewahr wurden, hörten die Ratten auf, an der Maschine herumzuschrauben, legten Werkzeug und Meßgeräte beiseite und begrüßten mich als „Spender der Rohstoffe“.
„Gegrüßt Seist Du, oh Spender Der Rohstoffe“, intonierte eine Ratte, die einen Kranz aus Tennissocken auf dem Rattenkopf trug, feierlich. 

Dass das nicht Rohstoffe wären, sondern Socken, meine Socken dazu und dass ich sie gerne wieder hätte.
„Das ist unmöglich“, sagte die Oberratte und führte eine Reihe an technischen Gründen an, die ich leider als im Großen und Ganzen schlüssig erachten musste.
Sie boten mir an dafür an, an der Jungfernfahrt mit der Zeitmaschine teilzunehmen. Ich müsste mich nur ein bisschen zusammenfalten; das Innere der Maschine sei sehr klein, erstens, weil ich nicht genügend Rohstoffe geliefert hätte und zweitens weil sie hauptsächlich für Ratten gebaut sei, allerhöchstens hätte man noch Waschbären mitgenommen.
Ich nahm das Angebot an, besser als nichts.
Insgesamt war es ein eher anstrengender Abend.

Wednesday, April 6, 2011

Märzabend

Sträuche und Bäume wie vergessene Statuen von Kelten oder Römern. Knirschend kieselnder Schritt auf dem Wanderweg, lautlos auf Moos. Sand, letztes Eis, darunter gefangene Vögel, auch Stechgrün und Holunder. Der Mond, zwei Handbreit über dem Horizont. Jetzt bloß niemandem begegnen oder gar reden müssen. Steine sind ok.

Furchtbar erwachsen

Ich ahne es bereits, als sie pünktlich zum Tee kommen. Umständliches Eintreten in den Windfang, Einfalten - Einklappen, Ducken bei der Tür. Mein Hund bellt den Schwänzen hinterher. Eigentlich alles wie immer. Doch Drachen kommen nie pünktlich.
Ich stelle die heiße Kanne auf den Tisch und sage zu mir selbst: „Schau an. Schau an: Sie sind pünktlich zum Tee.”
Heute gibt es grünen Tee, dazu kohleschwarze Kekse. Die Unterhaltung läuft schleppend. Mein Hund merkt das und legt seinen Kopf tröstend auf meinen Schoss.
„Gutes Flugwetter heute, nicht wahr?”, frage ich und schaue aus dem Fenster. Auf der Fensterbank steht eine Topfpflanze aus der Kreidezeit, ein angsteinflösendes Ding, das von der Sonne wegzuwachsen scheint.
Haben sie mir mal mitgebracht. Heute haben sie nichts dabei.
Meine Gäste husten und blicken nervös unter sich.
An der Tür drückt mir der Älteste die Hand länger als gewöhnlich.
„Bis zum nächsten Mal!”, sage ich.
„Ja”, sagt er. Er wirkt sehr verlegen. Als sie abfliegen, begreife ich endlich.
„Ihr kommt doch wieder?”, rufe ich; sie fliegen davon. Sechs Umrisse am Himmel, wie Fledermäuse in Saurierhaut. Zum ersten Mal ist es mir egal, was die Nachbarn denken.

Anders Werden

Ungarn, Auslandsjahr 2008. Nach einer durchzechten Nacht in Budapest fahren Sandor und ich in den Morgenstunden mit dem Zug zurück nach Debrecen. Schwiegend, dämmernd, alkohol-zerlegte Teile unser Selbste zusammen setzend schauen wir aus dem Fenster. Auf der Höhe von Hortobagy holt Sandor sein Klappmesser aus seiner Jacke und sagt:
"Ich werde mich ändern, ich will ein anderer Mensch werden."
Sind wir allein in dem Abteil? Ich schaue über die Sitze und vergewissere mich dessen. Dass Sandor mit seinem Messer herumfuchtelte, hat uns schon paar Mal in Schwierigkeiten gebracht.
Wird es dieses mal aber nicht tun, außer uns ist keiner hier.
"Warum?", frage ich. Mir fällt sofort eine Vielzahl von Gründen ein, warum ich selbst jemand anders werden wollte: Prüfungsfäuste im Nacken, kleiner Stress, großer Stress, verfehlende Ziele und das Unbehagen über die Eckigkeit der Welt am Morgen.
"Ich lebe am Leben vorbei", sagt Sandor, "ich führe nicht das Leben, das ich führen will", er spielt mit dem Messer herum, klappte es zu, klappte es auf, "ich habe jetzt dieses Buch über Handlinien gelesen, das hier ist das Problem", damit zeigt er mit der Spitze des Messers auf die dicke, dem Daumen am nächsten liegende Linie auf seiner Hand.
"Das hier ist die Lebenslinie. Bei mir ist sie unterbrochen und spaltet sich. Das ist der Grund, warum ich nicht lebensbezogen genug bin. Das ändere ich jetzt."
Er sticht sich in die Hand, zieht die Linie nach, macht sie durchgezogen und gerade.
"Ich verstehe", sage ich und überlege, ob Sandor das Messer jemals geputzt hat (er benutzt es sonst, um Äpfel zu schälen).
"Das hier ist die Kopflinie, guck mal, sie biegt sich von meiner Handlinie weg. Menschen, bei denen das so ist, verlieren sich oft in Hirngespinsten und Tagträumen. Problem gehabt, Problem gelöst." Ein weiterer blutiger Schnitt und seine Kopflinie schmiegt sich nun an die Lebenslinie an.
"Ich weiß nicht, ob das wirklich so einfach ist, sich zu ändern", ich kann den Blick nicht von seiner Selbstverstümmelung abwenden.
"Doch, ist es. Man muss es nur wollen. Letztes Problem: Herzlinie", Sandor zeigt er auf die Falte in seiner Handfläche, die zwischen den beiden vorigen liegt, "sie ist bei mir schnurgerade. Das steht für ein reines Herz und Spontanität. Das ist mir schon oft in die Quere gekommen. Ich will überlegter, distanzierter und moralisch flexibler sein."
Ein letzter Schnitt und Sandors Herzenslinie kringelt sich nun, nimmt Abkürzungen und Umwege auf seiner Hand.
"So", sagt er und hält die Hand hoch, "ich bin jetzt ein anderer Mensch."
Sandor presst die Hand an das Fenster, sie hinterlässt ein blutiges Muster, in etwa den Buchstaben W.
Dahinter gehen Regenfaden auf langen dünnen Beinen an der ungarischen Steppe vorbei, von der sich die Nacht langsam hebt.

Später am diesen Tag telefoniere ich mit meinem Bruder, der in Breslau Medizin studiert und erzähle ihm von meinem seltsamen Erlebnis im Zug. Er lacht: "Schöne Idee, das ist aber Quatsch. Die Haut in der Handfläche ist sehr dick, fast dicker als die Haut auf dem Handrücken. Ein Schnitt, der die Handlinien umschreiben würde, müsste so dick sein, dass er die darunter liegenden Sehnen und Muskeln durchtrennen würde. Du wärst dann vielleicht wirklich ein anderer Mensch, aber Du könntest Deine Hand nicht mehr bewegen."

Monday, March 21, 2011

Nachttraurigkeit

Ich vollziehe meine Abendrituale, Wäsche aufhängen, wasbrauche ich für morgen?, abends-Elmex und zahnputzend durch die Wohnung laufen. Erschrecke mich als es an mein Fenster klopft.
Die Gardine und dahinter sie - Nachttraurigkeit.

Ich stelle das Fenster auf Kipp: Dass ich sie nicht reinlassen werde, diesesmal nicht, dass sie überhaupt nicht mehr kommen sollte, schon gar nicht hierher, zu mir nach Hause. Sie, mit ewig-sanfter, radiofarbener Stimme: Dass sie nur kurz gekommen sei. Ich: Dass sie dann auch kurz wieder gehen könne. Dabei die Gardine ganz beiseite ziehend und das Fenster öffnend (Fehler! und stete Versuchung: Die Sehnsucht der Fenster nach den Vöglen). Ob ich denn nicht wenigstens, zumindest, nur winzigst-kurz rauskommen könnte, für eine Zigarette im Garten, sie würde auch danach nicht mit reinkommen wollen, auch miteinander sprechen müssten wir nicht, nur eine rauchen im Garten, bei Abend, bei Nacht. Ich klettere nach draußen, da Erdgeschoss. Dort neben ihr der frühe Frühling, voller Gerüche, ihrer dazwischen, wir rauchen und, na klar, reden;
als ich wieder reinkomme, habe ich ihren Geschmack auf der Zunge.

Thursday, January 6, 2011

Morpheus' Brille

Was ist ein Traum? Zwei Antworten sind im Umlauf:
1. Im Traum passiert mehr oder weniger das gleiche wie im Wachleben – nur woanders.
2. Im Traum finden prinzipiell andere Ereignisse statt als im Wachleben.


Zur ersten Deutung gehören Trauminterpretationen à la „Im Traum bereisen wir eine parallele Welt“ oder „Im Traum entfaltet sich unser wahres Selbst“: Grundsätzlich Dinge, die man auch wachend durchführen kann.

Die neuesten Ergebnisse der Schlafforschung belegen die Richtigkeit der zweiten Deutung. Amerikanische Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Schlaflabor-Probanden, die geweckt wurden, sobald sie begannen zu träumen (wann dies stattfindet, lässt sich anhand der Beobachtung von Hirnströmen feststellen), anschließend große Probleme damit hatten, sich an die Ereignisse vor dem Zu Bett gehen zu erinnern. Träume spielen also bei der Bildung von Erinnerung eine Rolle.

So ist auch die alte Frage, warum man sich nicht an seine Träume erinnern kann (es sei denn man träumt unmittelbar vor dem Erwachen), gelöst: Wenn man Träume mit etwas aus dem Wachleben vergleichen sollte, dann mehr mit dem Akt des Erinnerns selbst, als mit etwas, woran man sich erinnert.

Ein Bild zur Verdeutlichung: 

Stell Dir vor, Du wärst so kurzsichtig, dass Du ohne Deine Brille nichts, gar nichts sehen kannst. Von Zeit zur Zeit geht Deine Brille kaputt. Zufällig befindest Du Dich jedesmal, wenn die Brille zerbrochen ist, in der Nähe einer Brillenwerkstatt. Du gehst hinein und wirst – blind wie Du bist – von einem freundlichen Mitarbeiter hereingeführt und unterhalten, während jemand anderes Deine Brille repariert. Du bekommst sie zurück und verlässt die Brillenwerkstatt.

Das Kaputt-Gehen der Brille entspricht dem Einschlafen, die Werkstatt dem Schlaf, die Reparatur dem Traum, die Dunkelheit dem fehlenden Erinnern. Man kann sich nicht an die Zeit in der Werkstatt erinnern (man sieht dort nichts), weil das, womit man sich erinnert (womit man sieht) dort erst hergestellt wird. Alles, woran man sich erinnert, sind die Traumereignisse kurz vor dem Aufwachen: Wenn man die Brille schon zurück bekommen hat, sich aber immer noch in der Werkstatt befindet. 


Ein weiterer Grund, warum wir uns nicht an unsere Träume erinnern, wird nun deutlich: Man erinnert sich sowieso nie an die Geschehnisse in ihrer nackten Faktizität; Menschen sind nun mal keine Videokameras, die emotionslos aufzeichnen, was sie sehen und es dann genau so abspielen können. Was am Tag passiert ist, wird in unserer Erinnerung geglättet, logisch gemacht und so lange angepasst, bis es in unser Weltbild passt. Die gemilderte Erinnerung ist das Ergebnis des Traums, im Traum selbst muss das Erfahrene aber zunächst ungefiltert, in seiner ganzen Brutalität und Ehrlichkeit vom Brillenschmied angefasst und in allen Teilen einzeln beurteilt werden. Dies kann traumatisch sein. Dadurch, dass wir uns nach dem Aufwachen nicht mehr daran erinnern müssen, erspart uns unser weises Inner-Ich die Begegnung mit dem Realen.