Friday, September 17, 2010

Hunnensturm


Franics Bacon zeichnet Körper, die aus ihrer Körperlichkeit heraustreten; sie wirken zerstört, beschädigt, demoliert. Sie sind jedoch nicht Körper, sondern Seelen, bestimmte Seelen: Die Art von Seele, die uns fehlt. 

Ihren Kritikern bietet die im Sterben liegende Psychoanalyse vielfältige Einfalltore: die nicht falsifizierbare Instanzenlehre, die banale „psychosexuelle Entwicklung“, die überbewerteten Fehlleistungen. Ein Punkt wird aber immer wieder besonders herangezogen, wenn es um die vulgäre Falschheit der Psychoanalyse geht: Der sogenannte Ödipuskomplex. Tatsache ist, dass ihm kein empirisches Faktum entspricht: Alfred Charles Kinsey konnte in der groß angelegten Studie Sexual Behavior in the Human Male bereits 1948 nachweisen, dass Inzest auch für die Verhältnisse sexueller Perversionen ausgesprochen selten auftaucht - vom jüngeren Part ausgehender Inzest gar nicht. Doch eine solche Herangehensweise verfehlt den entscheidenden Punkt.

Denn beim Oedipuskompex geht es um die Konfrontation mit dem Lacanschen Realen. Der Therapeut will, dass man sich etwas Furchtbares (wobei die Fatalität nicht nur am Akt selbst liegt, sondern gerade daran, dass die Psychoanalyse verlangt,
dass man es will) vorstellt und ins Innerste seines Selbst stellt. Es ist offensichtlich falsch, ausserdem anstößig und obszön. Doch der psychoanalytischen Anweisung zu folgen bedeutet, über seinen Schatten zu springen. Und das ist es, was uns fehlt.

Ein Beispiel aus dem Märchen:
Peter Schlemihls wundersame Geschichte von Adelbert von Chamisso. Schlemihl schließt einen Pakt mit dem Teufel. Alle Wünsche werden ihm erfüllt, er lebt in Reichtum und Zufriedenheit. Das einzige, was der Teufel im Gegenzug verlangt, ist Schlemihls Schatten. 
Uns geht es genauso: Wir wollen in Wellness und fit-gesundem Glück leben; was uns dabei verloren geht, ist die Fähigkeit, über unseren Schatten zu springen, ja, wir vergessen sogar, dass es diese Möglichkeit überhaupt gib.

Statt sie zu formen, verhätscheln wir unsere Seele. Was uns fehlt, ist ein Hunnenstrum.

Friday, September 3, 2010

Tolkien, der Katholik

Über post-secular thought in den Feuilletons und "irgendwie glaubt jeder"-Binsenweisheiten auf Kalenderblättern ist der tatsächliche Unterschied zwischen Heidentum/New Age und Christentum im kollektiven Bewusstsein verloren gegangen.

Die heidnische Welt ist gekennzeichnet durch Ordnung und Harmonie (oder Tao). Alles hat einen (und nur einen) Platz und eine Funktion. Der Kosmos funktioniert, weil sich seine einzelnen Teile in ein harmonisches Ganzes fügen und darin sich ihrem Schicksal ergeben. Böses entsteht, wenn ein Einzelner sich nicht fügt und gegen seinen Platz aufbegehrt: Sauron will Herr über Arda, Miltons und Dantes Satan will nicht "zweiter im Himmel" sein. Der Raum für Heldentum befindet im Kampf um die Wiederherstellung der ursprünglichen Ordnung: Dass das Zeitalter der Elben trotz Aragorns Sieg unwiederbringlich vorbei ist, ist einer der Gründe für die große Melancholie, die "Herr der Ringe" durchzieht.

Der wesentliche Punkt am Christentum ist die Durchkreuzung der kosmischen Ordnung und die provozierende Parteinahme für den Einzelnen. Der ist es, auf den sich die
Goldenen Regel und damit das ethische Hauptgebot der Evangelien bezieht: Laut Markus, Lukas und Co sollen wir uns um den langweiligen, menschlichen Nächsten sorgen, nicht um die Harmonie der Sphären.

Dank der Gnade Gottes kann jeder zu Gott aufsteigen, unabhängig von gesellschaftlicher Stellung, Geschlecht oder
Rasse. Für Paulus gibt es jedoch keine göttliche Ordnung, die Welt ist wie sie ist, ohne Geheimnis, ohne dahinter stehenden tieferen Sinn, es gibt nur das Leiden, die Nächstenliebe und die Gnade. Darin ähnelt das Christentum dem Buddhismus, der sich in ähnlich radikaler Weise über das hinduistische Kastensystem hinweg gesetzt hat.
Beides, das Fehlen eines geheimnisvollen Plans hinter der Welt der Erscheinungen (der durch etwa die Magie der Eingeweihten oder die Kabbala gelüftet werden könnte) und das Angewiesen Sein auf den singulären Akt des göttlichen Gnade Waltens ist für uns Zeitgenossen schwer schluckbar.


Unsere gesellschaftliche, westliche Struktur mit ihrem sinnlosen Reißzahn-Kapitalismus braucht die Vorstellung einer gerechten Anders-Welt. Gleichzeitig kränkt uns die Idee eines
großen Anderen, der uns heilig machen kann.

Die ursprüngliche Botschaft der Evangelien und der paulinischen Briefe ist das störende Sandkorn, um das sich die polsternde, schön anzuschauende Perle des Heidentums bildet. Schon die "Göttliche Komödie" und die Artus-Sage schrieben pagane Vorstellungen wieder in den christlichen Korpus hinein. Achsenpunkt zwischen beidem ist William
Blake, der meinte, Satan sei der eigentliche Held des paganisierten Christentums à la Paradise Lost.

Erwachsen Lieben

Beim Zappen durch Musik-Videos fällt auf, dass das, was mal harmlos und großväterlich bei MTV mit tanzenden Frontmännern, Kamerafahrten durch Großstädte und Zoom auf Bass-Seiten von Bill Wyman angefangen hat, mittlerweile die Grenze zur (natürlich nur ironisch gemeinten, ironisiert dargestellten) Pornographie lässig überschritten hat.

Wenn aus Katy Perrys Mammae stoßartig literweise Sahne hervorkommt, ist das obszön, aber nicht erotisch. Denn Erotik gibt es nur zwischen Menschen, doch Aufmachung (Make-Up, Haare, Kleidung) von Katy und Co macht allzudeutlich: Was hier gezeigt wird, wer hier tanzt, sind nicht Menschen, sondern hübsche Puppen.

Die Puppe als ideale Frau ist ein uralter Männertraum. So mündet auch Blade Runner in der Darstellung des weiblichen Androiden, in den sich Han Solo verliebt. Hübsch, unterwürfig, still, folgsam, anspruchslos, aseptisch: Dieses Ideal finden Männer nicht in der Realität, lassen aber genauso wenig davon ab, sondern erhoffen/erträumen sich die perfekte Roboterfrau, also: Eine Puppe.

Das Komplement dazu ist der pseudo-freudianisch pseudo-weibliche Wunschbild von idealen Mann als "wilder Kerl": Daher der große Erfolg von Peter Hoegs Die Frau und der Affe, in der die Protagonistin Marlene genußvollen Geschlechtsverkehr mit einem Affe pflegt. Fern davon, die schlüssige Konsequenz aus vermeintlicher Verweiblichung von Männlichkeiten in der Gegenwart zu sein, ist der Wilde Kerl der Traum des kleinen Jungen, der jeder Mann einmal war.

Dass es selbst im pornographischen Diskurs unmöglich ist, sich die Kopulation einer Puppe mit einem Affen vorzustellen, zeigt, dass es letztlich keinen Umweg um die verhasste-gefürchtete erwachsene Liebe zwischen zwei Menschen, echt-Frau, echt-Mann, gibt.

Thursday, September 2, 2010

"Sei Kerze: Brenn von beiden Seiten"

Aus den Glücks-, Lebens-, Perspektiven- und Wohlfühlbüchern, die allerorts Regale in Buchhandlungen füllen, tropft die eine Frage: Wie lebe ich richtig?

Unmittelbar dahinter steht eine andere Frage: Was ist das wahre Leben? Offizieller religiöser Leitdiskurs unserer Gesellschaft ist der Atheismus. Strenger Atheismus behauptet, dass es nur ein Leben gebe: Dieses hier. Da nichts davor und nichts danach liegt, ist das gegenwärtige Leben alles, was man hat und muss sorgfältig gehütet werden. Daher schallt es dem Richtig-Lebend-Wollenden durch die Medien vielfach verstärkt entgegen: "Lass ab von allem, was Dein Leben verkürzt!" Kein Rauchen, wohldosierte Alltagsdrogen, keine harten Drogen, Joggen, sich fit halten, Kuschel-Meditation, et cetera. Kurz: Ein langweiliges, durchschnittliches, fades, dafür aber langes und gesundes Leben führen.

Das ist das Paradox: Stellt man das diesseitige Leben absolut, ist man verleitet, es (und sich selbst) wie ein teures Stück Fleisch zu behandeln. Obwohl die Logik dessen schlüssig ist, merken wir, dass es das dennoch nicht gewesen sein kann.

Damit man das Leben intensiv, wahr, wirklich richtig lebt, darf man es nicht zu sehr schätzen. Nur durch die Bereitschaft, auf das Leben zu verzichten, holen wir das Maximum daraus hinaus. Obwohl Che Guevara sein Leben und sein Äußeres gering achtete, hat er (das leuchtet unmittelbar ein) intensiver gelebt als jeder Fit-for-Fun-e-Gutverdiener.

Das ist übrigens auch Paulus' Punkt und der Grund, warum man seine Briefe auch dann nutzbar machen kann, wenn man selbst nicht an den christlichen Gott glaubt. Das Gegenteil von Paulus (und vom wahren Leben) ist nicht Nietzsche (oder Dawkins), sondern das Nashorn: Sicher, stabil, keine natürlichen Feinde, gepanzert, unempfänglich, tot.