Thursday, December 30, 2010

Gib mir ein Zeichen, Herr!

Die Linien auf der Hand, das Sternenbild, unter dem wir geboren wurden, die Zahl, die uns immer einfällt, die Tarotkarte, die wir stets als erstes ziehen: Zeichen der Zukunft, so die zeitgenössische Esoterik, und Zeichen, die die Wahrheit über unser Selbst verraten. Die Zeichenlehre des New Age ist jedoch nicht falsch, sondern irreführend, insofern als sie eine bestimmte Frage ausschließt, nämlich: Was ist kein Zeichen?

Man muss lange überlegen, bis einem etwas einfällt, das kein Zeichen ist (Werbung in der Post, Zahnschmerzen, Tapetenmuster). Und zerrinnt es, kaum dass man länger den Blick darauf richtet: Alles ist ein Zeichen (und sei es für Konsumobssesion, die Materialität des Menschen und seine abnehmende Bissigkeit - und wer kann garantieren, dass man im Tapetenmuster, systematisch suchend, nicht doch eine Botschaft fände?).

Sobald der erste nackte Affe sprechen konnte, sprachen die Dinge zurück: Alles murmelt.
Jeder Gegenstand, an dem ich auf dem Weg vom Aldi in die Bibliothek vorbeifahre, kann mir etwas mitteilen, wenn ich ihm zuhören will. Nicht nur Plakate, die auf Konzerte und Konzerne verweisen, sondern auch Bäume ("Sprich mir vom Alter, Bruder Baum"), Straßen ("Geh mit mir, Weg"), Wolken ("Der Schlittschuhläufer auf einem gefrorenen Himmel hinterlässt eine Schrift im Wolkenalphabet") und Zivilisations-Krimskrams.

Chaos, Information-Overkill, nah an Schizofrenie. Wie also sinnvoll Zeichen setzen?


Das Gegenteil von Information ist nicht Unordnung, sondern Zufall. Indem man die primären (grundsätzlichen, zB "Sonne bedeutet Stärke", im Gegensatz zu sekundären Zeichen, zB "Sonnenfinsternis bedeutet Schwächeanfälligkeit") Zeichen mit einer zufälligen Bedeutung belegt, überlistet man das unendliche Murmeln der Symbole. Zufällig, ohne mir etwas dabei zu denken, lege ich fest, dass die Zahl 2 für den Mann steht und die Zahl 3 für die Frau. 

Daher ist der Vorwurf gegenüber der katholischen Kirche, sie halte an zufälligen und/oder historisch gewordenen Riten und Symbolen fest, falsch: Genau dadurch, dass sie das tut, macht sie ebendiese Zeichen für den Menschen heilig. Für Gott ist das Kreuz kein heiligeres Sinnbild als ein Dreieck oder das Batman-Symbol. 

Wednesday, December 15, 2010

Für genau eine Kippe

In der Simpsons-Folge „Lisa the Skeptic“ verkündet ein Engeln den Bewohnern Springfields, dass die Welt am Folgeabend um zwanzig Uhr untergehen wird. Warum ausgerechnet um 20:00 Uhr? 

Die Uhrzeit ist ein beliebig austauschbares Element, aber diese Beliebigkeit selbst ist nicht austauschbar, sondern 
entscheidend für unseren Begriff von Weltende/Apokalypse. Den genauen Umständen der Apokalypse wohnt stets etwas Zufälliges inne. Darum geht die gängige Kritik an der (grob missverstandenen) Maya-Prophezeiung, die Welt würde 2012 enden, (nämlich „Warum ausgerechnet 2012 und nicht früher oder später?“) an der Sache vorbei: Jedes festgestellte Datum (und jede Uhrzeit) der Apokalypse ist zwingend kontingent. 

Wenn man im Flugzeug die Durchsage

„Liebe Fluggäste, wie Sie vielleicht bereits gemerkt haben, sind nun auch unsere Ersatztriebwerke ausgefallen. Wir werden in zwischen neunzig Sekunden und zwei Minuten in einem Flammen-Inferno auf dem Erdboden zerschmettern, bedanken uns für Ihren Flug mit xy und wünschen Ihnen eine gute Zeit in einem eventuellen Nachleben“ 
hört, so ist diese Situation eben nicht mit dem Weltende vergleichbar, weil hier die verbliebene Zeit determiniert (und damit das Gegenteil von 'zufällig', nämlich 'sinnlos') ist.
Zwei Minuten, das reicht für eine hastig gerauchte Kippe.

Das konventionelle Apokalypse-Verständnis ist also naiv. Wie nehme sich ein den tatsächlichen Gegebenheiten angemesseneres Welt-Ende-Bild aus?
Folgen wir Walter Benjamin und stellen fest, dass das Unglück-am-Ende-der-Zeit nicht darin besteht, dass die Kontinente in das lava-öse Erdinnere abrutschen, sondern dass es so weiter geht wie bisher - das ist die Katastrophe.

Dass sich nichts ändert, sondern das falsche Leben weitergelebt wird, um jeweils ein neues Kalenderjahr end-los verlängert, ist, der das wahre Leben, die Heimkehr der Seele zu den „unsterblichen Landen westlich des Meeres“, verhindernde Notstand.

Daher rettet uns weder ein Held noch nachhaltiges Wirtschaften vor dem Untergang der Welt. Das einzige Mittel, die Apokalypse abzuwenden, ist der Griff zur Notbremse.


Friday, November 26, 2010

Wie groß war Jesus wirklich?

As a robot living among humans, I've never really felt accepted at parties or nude beaches. So I've always secretly wondered... what if I was five-hundred feet tall? 
Bender in: 
„Futurama: Anthology of Interest I“ (2000) 

In einer Kleinstadt in Westpolen hat ein einfacher Pfarrer genug Geld gesammelt, um damit die größte Jesus-Statue der Welt zu bauen. Der Vatikan regierte verhalten. Sagte nichts dagegen, enthielt sich aber auch sonst eines Kommentars, noch nicht einmal ein „Gut gemacht, Jungs“ kam aus der Ewigen Stadt.

Kein Wunder, denn selbst zwischen den eh traditionell stark nach Heidentum schmeckenden Gesten des katholischen Bodenpersonals in ultramontanen Staaten (Italien, Irland, Polen et cetera) sticht die Statue in ihrer Unchristlichkeit heraus.

Meister, Lehrer, Rabbi Jesus: Was von der Bevölkerung Judäas um das Jahr Null herum erwartet wurde, war ein göttlicher Krieger, ein Messias, der mit flammenden Schwert die römische Besatzungsmacht zerbricht und ein israelisches Großreich nach davidischem Vorbild errichtet.

JC jedoch war eine äußerlich unscheinbare Gestalt mit relativ unspektakulären Superkräften (etwa verglichen mit Spiderman): Ein Zimmermann aus Galiläa. Seine Botschaft (Gewalt wird überbewertet, Schwerter und Kronen auch; wichtig sind Glaube, Hoffnung, Liebe und diese drei sind im Herzen, nicht in Tempeln) stand im krassen Widerspruch zu der gängigen Vorstellung davon, was ein Christus zu sagen haben sollte und war dermaßen provozierend, dass seine „exegetisch überforderten“ (Hans Conrad Zander) Zuhörer ihn hinrichten ließen. Zum ersten Papst machte JC einen Fischer: Petrus, sein erster Prophet war ein Zeltmacher: Paulus. Dabei kannte JC auch Hohepriester, römische Generäle und jüdische Helden (Zeloten).

Zweitausend Jahre später ist der Wunsch nach klassischer, vorchristlicher Erhabenheit groß. Wie schön wäre es doch, einen bärtigen Odin, einen mächtigen Thor, einen blutrünstigen Vishnu oder auch nur einen arroganten Zeus als Gott zu haben - statt eines Gottes, der so menschlich, so allzu-menschlich, uns so furchterregend ähnlich ist.

Wednesday, November 17, 2010

Der nächste Highlander

Dass Medizin und Forschung das Lebensende stetig nach hinten verschieben, bekräftig das gängige Urteil, Unsterblichkeit sei der auf für immer verschobene Tod. Durch die gleichzeitige Demonstration der prinzipiellen Wertlosigkeit menschlichen Lebens im neoliberalen System (etwa durch Genozide an Orten, die uns sowieso gleichgültig sind und Kindstod in Sweatshops) wird die Frage nach der Unsterblichkeit brennend relevant. 

Vieles spricht dafür, Unsterblichkeit nicht als Fortdauern des Selbst über den Tod hinaus zu begreifen, sondern in der Überzeitlichkeit des Jetzt. Wenn ich nicht halb in der Vergangenheit und halb in der Zukunft, sondern stets, mit voller Intensität, in der Gegenwart lebe und mich dieser stelle, wird das Leben von 
der Geschichte meines sich verändernden Ichs 
zum 
Überzeitlichen Jetzt, das nie vergeht und immer anders ist. 
Daher betonen christliche Mystiker die Bedeutung dieser Welt als Ort der Wirklichkeit Gottes (und nicht das Jenseits oder eine andere Welt). So streicht Meister Eckhart, dass Gott die Welt in jedem Augenblick erschaffe; nicht bloß bei der Schöpfung oder vielleicht noch beim Harmagedon ein weiteres Mal).

Wer wäre dann unsterblich? Ein treffendes Beispiel ist der Doktofisch Dorie aus „Findet Nemo“ (2003). Als einzige Figur in dem Film (und allen anderen Filmen), lebt sie ganz im Augenblick. Da Gegenwart und Zukunft für sie keine Rolle spielen, hat sie keine Möglichkeit schützende oder einschließende Filter um sich herum zu errichten, welche die Fülle und Forderung des Moments dämmen oder abmildern würden. Außerhalb der Zeit stehend, ist jeder Abschnitt ihres Lebens aufgehoben und allen anderen ohne Groll oder Bedauern gleichberechtigt. Ihr Tod wäre für sie subjektiv (und das ist die einzig relevante Betrachtungsweise, insofern als objektives Leben und objektiver Tod auch für bewusstseinsloses Leben gilt – aber nur für „beseeltes“ Leben eine Rolle spielt) nicht das Ende einer Linie, sondern nur ein weiteres Jetzt von spezifischer Intensität.
Lernen wir also („sprach Zarathustra“) wie Dorie zu fühlen.

Monday, November 8, 2010

Vom Regen in Italien

Woher kommt eigentlich das Sprichwort „Einem Polen schadet der Regen nichts"? Wenn polnische Kinder meckern, dass die Autofahrt zu lang, der Kakao zu kalt oder der Pulli zu kratzig ist, bekommen sie von ihren Müttern (seltener von ihren Vätern) gelegentlich obigen Satz zu hören.

Er stammt aus einem Gespräch zwischen den beiden alliierten Befehlshabern Bernard Freyberg und Wladyslaw Anders bei der Schlacht von Monte Cassino. Freyberg konnte kein Französisch (geschweige denn Polnisch) und Anders (zu dem Zeitpunkt noch) kein Englisch. Sie konnten aber beide Deutsch: Freyberg hatte es von seinem Vater und Anders von seiner Mutter gelernt. So kam es zu der absurden Situation, das bei einer der entscheidenen Schlachten im Zweiten Weltkrieg zwei alliierte Generäle sich auf deutsch verständigten.

Laut der Legende soll es stark geregnet haben. Freyberg stand unter einer Überdachung, Anders ein wenig davor. Anders stand im Regen, hatte aber dafür einen besseren Überblick auf das Kampfgeschehen. Freyberg soll ihn schließlich (auf deutsch) gefragt haben, ob er sich nicht lieber unterstellen wollte, die Sicht sei vom Unterstand immer noch recht passabel, woraufhin Anders antwortete:

„Einem Polen schadet der Regen nichts."
Womit er ausdrücken wollte, dass den Polen (wie er einer war) schon so viel Schlimmes widerfuhr, dass der Regen sein geringstes Problem sei.

Dieses Sprichwort war unmittelbar nach dem Krieg sehr populär, geriet jedoch in Vergessenheit, als Anders im Sozialistischen Polen zur persona non grata erklärt wurde. Über die Vermittlung der polnischen Exilanten in England blieb es trotzdem im Bewusstsein (Ryszard Kaczorowski - der selbst an der Schlacht von Monte Cassino als gemeiner Feldsoldat teilnahm und der gerade geschilderte Anekdote überlieferte; siehe zum Beispiel http://www.prezydent.pl/nasz-kraj/historia-prezydentury/prezydenci-na-uchodzstwie/- erwähnte sie gerne) und erlebt zurzeit unter polnischen Intellektuellen eine kleine Renaissance.

Friday, September 17, 2010

Hunnensturm


Franics Bacon zeichnet Körper, die aus ihrer Körperlichkeit heraustreten; sie wirken zerstört, beschädigt, demoliert. Sie sind jedoch nicht Körper, sondern Seelen, bestimmte Seelen: Die Art von Seele, die uns fehlt. 

Ihren Kritikern bietet die im Sterben liegende Psychoanalyse vielfältige Einfalltore: die nicht falsifizierbare Instanzenlehre, die banale „psychosexuelle Entwicklung“, die überbewerteten Fehlleistungen. Ein Punkt wird aber immer wieder besonders herangezogen, wenn es um die vulgäre Falschheit der Psychoanalyse geht: Der sogenannte Ödipuskomplex. Tatsache ist, dass ihm kein empirisches Faktum entspricht: Alfred Charles Kinsey konnte in der groß angelegten Studie Sexual Behavior in the Human Male bereits 1948 nachweisen, dass Inzest auch für die Verhältnisse sexueller Perversionen ausgesprochen selten auftaucht - vom jüngeren Part ausgehender Inzest gar nicht. Doch eine solche Herangehensweise verfehlt den entscheidenden Punkt.

Denn beim Oedipuskompex geht es um die Konfrontation mit dem Lacanschen Realen. Der Therapeut will, dass man sich etwas Furchtbares (wobei die Fatalität nicht nur am Akt selbst liegt, sondern gerade daran, dass die Psychoanalyse verlangt,
dass man es will) vorstellt und ins Innerste seines Selbst stellt. Es ist offensichtlich falsch, ausserdem anstößig und obszön. Doch der psychoanalytischen Anweisung zu folgen bedeutet, über seinen Schatten zu springen. Und das ist es, was uns fehlt.

Ein Beispiel aus dem Märchen:
Peter Schlemihls wundersame Geschichte von Adelbert von Chamisso. Schlemihl schließt einen Pakt mit dem Teufel. Alle Wünsche werden ihm erfüllt, er lebt in Reichtum und Zufriedenheit. Das einzige, was der Teufel im Gegenzug verlangt, ist Schlemihls Schatten. 
Uns geht es genauso: Wir wollen in Wellness und fit-gesundem Glück leben; was uns dabei verloren geht, ist die Fähigkeit, über unseren Schatten zu springen, ja, wir vergessen sogar, dass es diese Möglichkeit überhaupt gib.

Statt sie zu formen, verhätscheln wir unsere Seele. Was uns fehlt, ist ein Hunnenstrum.

Friday, September 3, 2010

Tolkien, der Katholik

Über post-secular thought in den Feuilletons und "irgendwie glaubt jeder"-Binsenweisheiten auf Kalenderblättern ist der tatsächliche Unterschied zwischen Heidentum/New Age und Christentum im kollektiven Bewusstsein verloren gegangen.

Die heidnische Welt ist gekennzeichnet durch Ordnung und Harmonie (oder Tao). Alles hat einen (und nur einen) Platz und eine Funktion. Der Kosmos funktioniert, weil sich seine einzelnen Teile in ein harmonisches Ganzes fügen und darin sich ihrem Schicksal ergeben. Böses entsteht, wenn ein Einzelner sich nicht fügt und gegen seinen Platz aufbegehrt: Sauron will Herr über Arda, Miltons und Dantes Satan will nicht "zweiter im Himmel" sein. Der Raum für Heldentum befindet im Kampf um die Wiederherstellung der ursprünglichen Ordnung: Dass das Zeitalter der Elben trotz Aragorns Sieg unwiederbringlich vorbei ist, ist einer der Gründe für die große Melancholie, die "Herr der Ringe" durchzieht.

Der wesentliche Punkt am Christentum ist die Durchkreuzung der kosmischen Ordnung und die provozierende Parteinahme für den Einzelnen. Der ist es, auf den sich die
Goldenen Regel und damit das ethische Hauptgebot der Evangelien bezieht: Laut Markus, Lukas und Co sollen wir uns um den langweiligen, menschlichen Nächsten sorgen, nicht um die Harmonie der Sphären.

Dank der Gnade Gottes kann jeder zu Gott aufsteigen, unabhängig von gesellschaftlicher Stellung, Geschlecht oder
Rasse. Für Paulus gibt es jedoch keine göttliche Ordnung, die Welt ist wie sie ist, ohne Geheimnis, ohne dahinter stehenden tieferen Sinn, es gibt nur das Leiden, die Nächstenliebe und die Gnade. Darin ähnelt das Christentum dem Buddhismus, der sich in ähnlich radikaler Weise über das hinduistische Kastensystem hinweg gesetzt hat.
Beides, das Fehlen eines geheimnisvollen Plans hinter der Welt der Erscheinungen (der durch etwa die Magie der Eingeweihten oder die Kabbala gelüftet werden könnte) und das Angewiesen Sein auf den singulären Akt des göttlichen Gnade Waltens ist für uns Zeitgenossen schwer schluckbar.


Unsere gesellschaftliche, westliche Struktur mit ihrem sinnlosen Reißzahn-Kapitalismus braucht die Vorstellung einer gerechten Anders-Welt. Gleichzeitig kränkt uns die Idee eines
großen Anderen, der uns heilig machen kann.

Die ursprüngliche Botschaft der Evangelien und der paulinischen Briefe ist das störende Sandkorn, um das sich die polsternde, schön anzuschauende Perle des Heidentums bildet. Schon die "Göttliche Komödie" und die Artus-Sage schrieben pagane Vorstellungen wieder in den christlichen Korpus hinein. Achsenpunkt zwischen beidem ist William
Blake, der meinte, Satan sei der eigentliche Held des paganisierten Christentums à la Paradise Lost.

Erwachsen Lieben

Beim Zappen durch Musik-Videos fällt auf, dass das, was mal harmlos und großväterlich bei MTV mit tanzenden Frontmännern, Kamerafahrten durch Großstädte und Zoom auf Bass-Seiten von Bill Wyman angefangen hat, mittlerweile die Grenze zur (natürlich nur ironisch gemeinten, ironisiert dargestellten) Pornographie lässig überschritten hat.

Wenn aus Katy Perrys Mammae stoßartig literweise Sahne hervorkommt, ist das obszön, aber nicht erotisch. Denn Erotik gibt es nur zwischen Menschen, doch Aufmachung (Make-Up, Haare, Kleidung) von Katy und Co macht allzudeutlich: Was hier gezeigt wird, wer hier tanzt, sind nicht Menschen, sondern hübsche Puppen.

Die Puppe als ideale Frau ist ein uralter Männertraum. So mündet auch Blade Runner in der Darstellung des weiblichen Androiden, in den sich Han Solo verliebt. Hübsch, unterwürfig, still, folgsam, anspruchslos, aseptisch: Dieses Ideal finden Männer nicht in der Realität, lassen aber genauso wenig davon ab, sondern erhoffen/erträumen sich die perfekte Roboterfrau, also: Eine Puppe.

Das Komplement dazu ist der pseudo-freudianisch pseudo-weibliche Wunschbild von idealen Mann als "wilder Kerl": Daher der große Erfolg von Peter Hoegs Die Frau und der Affe, in der die Protagonistin Marlene genußvollen Geschlechtsverkehr mit einem Affe pflegt. Fern davon, die schlüssige Konsequenz aus vermeintlicher Verweiblichung von Männlichkeiten in der Gegenwart zu sein, ist der Wilde Kerl der Traum des kleinen Jungen, der jeder Mann einmal war.

Dass es selbst im pornographischen Diskurs unmöglich ist, sich die Kopulation einer Puppe mit einem Affen vorzustellen, zeigt, dass es letztlich keinen Umweg um die verhasste-gefürchtete erwachsene Liebe zwischen zwei Menschen, echt-Frau, echt-Mann, gibt.

Thursday, September 2, 2010

"Sei Kerze: Brenn von beiden Seiten"

Aus den Glücks-, Lebens-, Perspektiven- und Wohlfühlbüchern, die allerorts Regale in Buchhandlungen füllen, tropft die eine Frage: Wie lebe ich richtig?

Unmittelbar dahinter steht eine andere Frage: Was ist das wahre Leben? Offizieller religiöser Leitdiskurs unserer Gesellschaft ist der Atheismus. Strenger Atheismus behauptet, dass es nur ein Leben gebe: Dieses hier. Da nichts davor und nichts danach liegt, ist das gegenwärtige Leben alles, was man hat und muss sorgfältig gehütet werden. Daher schallt es dem Richtig-Lebend-Wollenden durch die Medien vielfach verstärkt entgegen: "Lass ab von allem, was Dein Leben verkürzt!" Kein Rauchen, wohldosierte Alltagsdrogen, keine harten Drogen, Joggen, sich fit halten, Kuschel-Meditation, et cetera. Kurz: Ein langweiliges, durchschnittliches, fades, dafür aber langes und gesundes Leben führen.

Das ist das Paradox: Stellt man das diesseitige Leben absolut, ist man verleitet, es (und sich selbst) wie ein teures Stück Fleisch zu behandeln. Obwohl die Logik dessen schlüssig ist, merken wir, dass es das dennoch nicht gewesen sein kann.

Damit man das Leben intensiv, wahr, wirklich richtig lebt, darf man es nicht zu sehr schätzen. Nur durch die Bereitschaft, auf das Leben zu verzichten, holen wir das Maximum daraus hinaus. Obwohl Che Guevara sein Leben und sein Äußeres gering achtete, hat er (das leuchtet unmittelbar ein) intensiver gelebt als jeder Fit-for-Fun-e-Gutverdiener.

Das ist übrigens auch Paulus' Punkt und der Grund, warum man seine Briefe auch dann nutzbar machen kann, wenn man selbst nicht an den christlichen Gott glaubt. Das Gegenteil von Paulus (und vom wahren Leben) ist nicht Nietzsche (oder Dawkins), sondern das Nashorn: Sicher, stabil, keine natürlichen Feinde, gepanzert, unempfänglich, tot.

Sunday, August 29, 2010

Gaya und die Couch: Keine Erleuchtung

Der Atlas zeigt die Welt nicht weniger als unseren Geist; wobei Westmitteleuropa unser Alltagsbewusstsein ist. 

Wir haben wilde, libidinöse Neigungen (Spanien, Italien) und manchmal Momente von Nachdenklichkeit und Melancholie (Finnland, Island), aber im großen und ganzen folgt das Tag-Denken der Form, die Karl der Große ihm vorgab: Unser Alltagsbewusstsein ist, in die Geographie übersetzt (wie die sinnige Übersetzung der Architektur in den Tanz) Frankreich-Deutschland.

Osteuropa ist unser aller Unterbewusstsein. Wir wissen nur vages darüber, schämen uns manchmal, dass es zu uns gehört, lassen uns aber (in Abgrenzung und Affirmation) von seinen Vorgaben leiten. Der Urgroßvater aus Ostpreußen, das -ski im Nachnamen, die unaussprechlichen Gedanken, die wir mit uns herumtragen, dass uns „System of a Down“ magnetisch anzieht, obwohl wir unsere Metal-Tshirt-Zeit eigentlich überwunden haben: Um Die Länder zwischen Ural und Oder zu verstehen, brauchen wir Freund, nicht Brückner.

Je weiter wir den Globus drehen, auf desto tiefere Schichten unserer Seele stoßen wir, bis wir im fernsten Osten im buddhistischen Mönch unser innerstes Selbst, das „Herz des Herzens“ (Hegel), treffen. Nicht von ungefähr galt die Reise gen Osten seit jeher als die Reise zur spirituellen Wahrheit, während die Reise in den Westen nur schnöde Reichtümer und Massaker an der einheimischen Bevölkerung verhieß.

Doch was erwartet den Reisenden auf der Suche nach seinem Ich im fernsten Osten? Sehr reale Tempel, menschliche Priester, Steppen, alte Berge und vor allem: Keine Überraschung. Nichts, was er sich im westlichen Kuschelheim nicht schon ausgemalt hätte. Am Ende der Reise zum Selbst steht kein Ort, wartet keine neue Erkenntnis, bloß ein Platzhalter.

Denn der Kern des Selbst, das wahre Ich, ist nicht der Kern des Selbst, das wahre Ich, sondern die Reise, die Suche, die man unternimmt, um es zu finden. Letztlich ist egal, ob man die Suche abschließt oder nicht und ob man etwas findet oder nicht. Deshalb fällt es Leuten, die die Erleuchtung schließlich erreichten, so schwer, zu sagen, worin diese eigentlich bestand. 

Sunday, August 22, 2010

Worum geht es wirklich in "Bis(s) zum Abendrot – Eclipse"?

Was ist David Slades' „Eclipse“? Ein billiger Massenwaren-Film mit stereotypen Charakteren und einfallslosen Dialogen? Dagegen spricht, dass Slade ansonsten anspruchsvolle und sogar kluge Filme dreht (30 Days of Night, Hard Candy).

Oder ist „Eclipse“ vielleicht eher ein Film voller Rätsel? Das größte: Warum machten alle so ein Aufheben um Bella? Meyer-Fans entgegnen hier: „Lies das Buch!“, doch ich argumentiere dafür, dass Filme, auch Literaturverfilmungen, für sich stehen, ein eigenständiges Werk sind und sollten aus sich heraus begreiflich sein oder begreiflich gemacht werden können.

Klar, dass der Rummel um Bella (Kristen Stewart) nicht an Bella selbst liegen kann. Bella ist unattraktiv, träge, langweilig, passiv und charakterlos. Im ganzen Film gibt es nicht eine Szene, in der man als Zuschauer denkt „Oh, Bella … [du bist aber hübsch/klug/überraschend]“ Die Textur von "Eclipse" läuft dem ausgeprochenen, angeblichen Inhalt entgegen.

Das gilt auch für die beiden Protagonisten Jacob (Taylor Lautner) und Edward (Robert Pattinson). Die schockierende, tieferliegende Wahrheit von "Eclipse" ist, dass Jake und Edward schwul sind und aufeinander stehen. Da sie ihre Liebe aber nicht unmittelbar ausleben können, benutzen sie Bella als Bindeglied. Bella spielt die Rolle des lacanschen "verschwindenden Vermittlers": Kämen Jacobund Edward zusammen, bräuchten sie Bella nicht mehr. Aber sie können nicht zusammenkommen, daher ist Bella ihr notwendiger Verbindungspunkt. Die Unverwirklichbarkeit ihrer Liebe hält die Spannung und Handlung im Film aufrecht.

Was in „Eclipse“ negativ auffällt, ist die stereotype Darstellung homosexueller Heranwachsender. Praktisch kein Cliché wird ausgelassen. Jacob liebt Sport und „schweift“ gerne mit seinen (allesamt männlichen) Freunden in freier Natur umher. Alles kulturelle, „weibliche“ ist ihm fremd, er bevorzugt „männliche“ Tätigkeiten wie Bergsteigen, schwimmen oder Kämpfen und sieht sich selbst gerne als wilden, freien (und natürlich explizit männlichen) „Wolf“.


Obwohl behauptet wird, dass er Bella liebe und begehre, tut er es nie. Weder blickt er sie sehnend an, noch unternimmt er einen wirklichen Versuch, ihr seelisch oder körperlich nahe zu kommen. Sein einziger Alibikuss ist ein ungelenker, brutaler Akt – dem Zuschauer wird deutlich gemacht, wie sehr der Kuss Jacob zuwider ist.
Auch Edward sagt nur, er würde sie lieben, unternimmt aber nie etwas, das zeigen würde, dass die Gefühle, von denen er so gerne redet, wirklich wahr sind. Die Gesten, derer er sich bedient, um seine „Liebe“ zu Bella auszdrücken, sind manieriert und offensichtlich aus Hollywood-Liebesfilmen abgeguckt und nachgespielt.

Dass Bella die Falschheit der Zuneigung ihrer beider scheinbaren Verehrer entgeht, wird innerhalb des Filmes damit begründet, dass ihre Rolle ja auf Stumpfsinnigkeit“ hin ausgelegt ist.

Warum könnten Jacob und Edward nicht zu ihrer schwulen Liebe stehen? Warum verbiegen sie sich so und gefährden ihre und die Leben ihrer Familien, nur um die Scharade aufrecht zu erhalten?

Jacob kann nicht zu seiner Homosexualität stehen, weil er in einer traditionellen, vormodernen Gesellschaft lebt. In diesen ist Homosexualität traditionell tabu (so wie es auch keine schwulen Kelten oder Germanen gab). Dies festzustellen ist der Sinn der Pow-Wow-Szene, deren Auftauchen im Film ansonsten unverständlich bleiben würde.

Bei Edward liegt die Sache anders: Die Vampir-Szene lässt sich mit dem Militär vergleichen: In einer Organisation oder Gruppe, die fast schwul ist, deren Rituale und Praktiken fast schwul wirken, wird besonderer Wert darauf gelegt, markant heterosexuell zu sein. Und eine homosexuellere Umgebung als die der weiblichen, gepflegten, blassen, gefühlvollen Vampire lässt sich kaum vorstellen. Da sie sich fast schwul verhalten, wird offene Homosexualität nicht geduldet.

Die Pointe des Filmes ist, dass Jacob und Edward wissen, dass der jeweils andere genauso fühlt und genauso blockiert ist. Sie befinden sich daher in einem Zustand stummer Übereinkunft. In der Szene, in der Jacob, Edward und Bella zusammen in einem Zelt übernachten, schauen sich die beiden Protagonisten zwar wütend, aber auch leidenschaftlich und voller Verlangen an: Im gesamten Film wird keiner der beiden Bella auf diese Weise anschauen.